Der „Arabische Frühling“, der bereits das zweite Jahr anhält, ist zweifelsohne zu einer deutlichen Illustration von Kriegen der neuen Generation geworden, ein Experiment, das es gestattet, in groben Zügen die Perspektiven der künftigen Kriege um die Neugestaltung – oder gar die Umformatierung – von ganzen Regionen und Kontinenten zu zeichnen.
Eine „Neugestaltung der Welt“ ist von einem gewissen Standpunkt eine Sache, die seit langem ansteht, und die derzeit immer noch anhaltende Weltfinanz- oder Wirtschaftskrise zwingt geradezu zu einer schnelleren Umsetzung solcher Fragen. Der Kreditwirtschaft ist das Problem von nicht mehr einzutreibenden Schulden inhärent, genau deshalb folgen Krisen und Kriege, die solche Schulden auf null zurücksetzen, in einem immerwährenden Kreislauf und sind in einem solchen System „normal“.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat ihren Hauptantagonisten – die Vereinigten Staaten – mehr oder weniger überrascht. Das Glück kam so unerwartet, dass die außenpolitischen Handlungen der Amerikaner danach zunächst rein reflektorisch waren. Doch schon ab der Mitte der 1990er Jahre begannen unter den Geostrategen der USA ernsthafte Bemühungen um die Formulierung einer neuen geopolitischen Strategie.
Bereits 1997 erschien in den USA eines der ersten bedeutenderen Werke zu diesem Thema: „Strategic Geography and the changing Middle East“ von Geoffrey Kemp und Robert Harkavy. Die Autoren legten ihre Sicht auf die Zukunft des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas dar und sprachen da schon von einer bevorstehenden Renaissance des Islam und der Unausweichlichkeit von Konfrontationen zwischen Nord und Süd. Es ist klar, dass die Autoren Huntingtons Werk über die Konflikte und Wechselwirkungen der Zivilisationen kannten, sich von diesem leiten ließen und es kreativ weiterentwickelt haben.
Es wurden Programme gestartet, in denen verschiedene Institute und Fonds, die sich der strategischen Forschung widmen, mögliche Entwicklungen der Welt nach dem Kalten Krieg prognostizieren sollten. Innerhalb einiger Jahre wurden die grundlegenden Prinzipien und Herangehensweise der USA hinsichtlich des Nahen Ostens, einer unbestreitbaren Schlüsselregion, formuliert. Resultat dieser ganzen Bemühungen war die Theorie des „Großen Nahen Ostens“, unter Bush Junior verkündet und durch verschiedene Äußerungen seines Verteidigungsministers Rumsfeld ergänzt.
Visualisiert wurde diese Theorie mithilfe verschiedener Karten der Region, deren bekannteste die Karte des Oberst Ralph Peters ist. Es gibt aber auch noch andere Beispiele, die nicht weniger interessant sind – beispielsweise die von Michael F. Davie so um 2005, die – geht man von den heutigen Ereignissen und Prozessen aus – vielleicht noch besser passt. Daran bekommt man eine Vorstellung davon, wie genau der neue Nahe Osten innerhalb einer Pax Americana 2.0 aussehen soll.
Neue Staaten in Nahost. Nach Michael F. Davie, 2005
Der Sinn der Neuzeichnung von Grenzen und der Umgestaltung von Gebieten liegt in der Schaffung eines neuen Monsters, das mit Feuer und Schwert durch seine nahen und fernen Nachbarn geht, selbst ausblutet und es den hinter dem Ozean befindlichen Staaten gestattet, in letzter Minute auf der Seite des Siegers in die Auseinandersetzung einzutreten, wenn die verfeindeten und aufeinander gehetzten Nationen und Strukturen sich gegenseitig aufgerieben haben. Faktisch dasselbe Szenario, das bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg realisiert wurde, doch beim vorigen Mal hat die USA ihr Ziel nicht vollständig erreicht – durch die Kriege wurde zwar Großbritannien so weit niedergeworfen, dass die Staaten seine Stelle eingenommen haben, aber der Preis war das Entstehen einer weiteren Großmacht, nämlich der Sowjetunion. Jetzt werden sie versuchen, diesen Fehler nicht zu wiederholen, und man muss konstatieren, dass sie Grund zum Optimismus haben.
Der Nahe Osten wurde natürlich nicht zufällig zum Rammbock gegen die Feinde der Amerikaner erkoren. Die Kolonialmächte haben beim Verlassen ihrer Überseeterritorien die Grenzen der Staaten so gezeichnet, dass dadurch die ohnehin bestehenden Widersprüche zwischen einzelnen Völkern durch neuen Konfliktstoff erschwert wurden. Die Zeit, die Früchte dieser Saat einzuholen, scheint gekommen.
Die 9/11-Anschläge haben den Vereinigten Staaten die Möglichkeit gegeben, mehr oder weniger zeitnah den Irak zu vernichten und einen Mechanismus anzuwerfen, der zum Untergang des Iran führen soll. Der Irak war der Übungsplatz, auf dem die taktische Umsetzungen der Strategie praktiziert und feingeschliffen wurde, fast nebenbei wurden die gestellten Ziele an der Peripherie der Region gelöst. Im Irak ist es gelungen, den ersten Bruch zu legen und gleichzeitig Desintegrationsprozesse auch in dessen Nachbarländern zu initiieren. Die Kurden, welche de facto eine Unabhängigkeit bekamen, konnten zwar erstmals in ihrer Geschichte einen mehr oder weniger stabilen Quasi-Staat schaffen, ihre inneren Spaltungen bestehen aber weiter. Die Sunniten, die aus dem Irak in die Nachbarländer flohen – vor allem nach Syrien – wurden zum Brennstoff, der sich mittelfristig entzünden sollte. Die Sunniten, die im Irak verblieben, spielten dieselbe Rolle, allerdings nicht zeitverzögert, sondern gleich und vor Ort.
Letztlich war es also der Irak, wo die Strategie des „Großen Nahen Ostens“ ihren Feinschliff erhielt und der es gestattete, Perspektiven einzuschätzen und Prioritäten für das weitere Vorgehen zu setzen. Das Wesen dieser Strategie („gesteuertes Chaos“) liegt darin, neue Grenzen zu ziehen und Schlüsselländer des Nahen Ostens in Teile zu zerlegen, während Zerfall und Desintegration der meisten übrigen zu einer enormen Archaisierung der islamischen Zivilisation führen.
Aber das Wichtigste: der Zerfall der Einheit der Region schafft Millionen Hungerleider und Benachteiligter, die zu den Soldaten dieses Krieges der neuen Generation werden. Libyen und Syrien sind die Übungsplätze für diese neue Art Kriegführung, an beiden Ländern kann man deutlich erkennen, wessen Interessen durch wen konkret am Boden umgesetzt werden.
Die Entwicklung der Militärtechnik an sich macht es unmöglich, Kriege nach „altem Format“ zu führen – mit Tausenden Kilometern Frontlinie, Panzerkeilen, Millionen an organisierten Menschenmassen. Stalin hatte es da noch gut: er schrieb ein erbostes Telegramm und schon baute das so inspirierte Kollektiv statt einer IL-2 pro Tag deren zwei. Die Heimat rief, und allein die Sowjetunion hat in den Kriegsjahren mehr als hunderttausend Panzer vom Band rollen lassen…
Nun sollte man einmal versuchen, in einem solchen Tempo moderne Jagdflugzeuge und Präzisionsbomben zu bauen und einen permanenten Nachschub modernster Waffentechnik an eine solche Front zu gewährleisten. Das geht einfach nicht.
Aus diesem Grund haben die Politiker und Militärs das Problem, dass sie die Zielländer damit vernichten müssen, was bereits vorhanden ist, ohne damit zu rechnen, dass ihre Waffenlager schnell wieder aufgefüllt werden. Unter solchen Bedingungen sind langwierige Kriegshandlungen nicht möglich.
Der Überfall auf Libyen hat diese klinische Tatsache nur bestätigt. Schon nach drei-vier Monaten nicht allzu intensiver Bombardements stellten die europäischen Aggressoren mit Beklemmung fest, dass die Vorräte an Bomben und Marschflugkörpern zur Neige gehen. Und das ohne jeglichen Widerstand seitens der libyschen Luftverteidigung. Gut möglich, dass hierin auch einer der Gründe ist, warum bisher keiner von ihnen nach Syrien geflogen kam. Die Rüstungsindustrie hängt hinterher.
Ein „traditioneller“ Krieg mit bombastischen Angriffen aus der Luft, explodierenden Bomben und Granaten tritt deshalb angesichts eines neuen Konzepts in den Hintergrund: nämlich der Zerrüttung des Gegners von innen, bis er zu keinem nennenswerten Widerstand mehr fähig ist. Erst dann wird mit einem entscheidenden Schlag das gestellte Ziel erreicht. Im Idealfall ist ein solcher Schlag nicht einmal mehr notwendig.
Diese Konzeption wird heute in vollem Umfang auf Syrien angewandt. Vom Erfolg oder Misserfolg des „syrischen Experiments“ hängt es ab, inwieweit die Amerikaner diese Technologie in Zukunft an anderen, weit bedeutenderen Gegnern realisieren können.
In Syrien arbeitet man an der Schwächung des Landes von innen gleich in mehreren Richtungen: die Aufstände und der Terrorismus zwingen die Armee, in ihrem eigenen Land Krieg zu führen, Mensch und Material dabei aufzureiben. Das Embargo und die Sanktionen schlagen auf die Wirtschaft und verschlechtern die materielle Lage der Bevölkerung, vernichten auf lange Sicht die Industrie des Landes. Der Informations- und Medienkrieg lastet schwer auf der Psyche sowohl der Bevölkerung, als auch natürlich der Regierenden. Dabei erweisen sich die Berge an Waffen, die für die Abwehr einer Aggression von außen angehäuft wurden, als vollkommen nutzlos im Kampf mit dem inneren Feind. Mehr noch, man ist zu hohem Aufwand gezwungen, um diese Waffen nicht in die Hände von Insurgenten gelangen zu lassen – auch das bindet Kräfte und Mittel. Die Banden haben derweil keinerlei Einschränkungen bei ihrer Kriegsführung. Die Regierung schon. Innere Einschränkungen – es geht immerhin um Krieg auf dem eigenen Territorium, aber auch äußere. Die „Weltgemeinschaft“ sitzt ja die ganze Zeit knurrend da, bleckt die Zähne und versucht, irgendwelche Menschenrechtsverletzungen oder auch nur die Präsenz von Militärtechnik in der Nähe irgendeiner Grenze zu wittern.
Syrien ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt in all diesen Richtungen bereits massiv geschwächt. Dabei haben die Feinde Syriens das unter durchaus vertretbaren Ausgaben und Verlusten ihrerseits erreichen können. Der Terror und der Aufstand werden weitergehen, die Drohung einer Militärintervention wird präsent bleiben, die Sanktionen werden bleiben oder unter irgendwelchen Vorwänden weiter verschärft. Eine direkte Militärintervention ist gar nicht nötig. Die Aufgabe wird ja auch so schon gelöst.
Theoretisch gibt es eine vage Chance, dieses Laborexperiment zu zerschlagen. Sie besteht darin, dass die zukünftigen Opfer einer solchen Geopolitik – in erster Linie Russland und der Iran – hier aktiv werden. Auf diplomatischer Ebene ist das gerade in den letzten Tagen auch in bis dato nicht dagewesener Schärfe passiert. Bleibt zu wünschen, dass das so bleibt und noch konkreter wird.