Das russische Außenministerium hat vor einer Woche über den inzwischen berüchtigt gewordenen stellvertretenden Außenminister Bogdanow verlauten lassen, dass Russland daran gehen will, Einheiten der libyschen Armee auszubilden.
Das zeigt eigentlich, dass die russische Führung ein recht klares Bild von der Situation und dem Kräfteverhältnis in Libyen hat. Andersherum ist das auch ein Signal, dass im “neuen Libyen” gewisse Veränderungen anstehen. Um es kurz zusammenzufassen – momentan scheinen die Ziele der eher säkularen Kräfte in der Regierung und die der libyschen Stämme zusammenzufallen. Ihre gemeinsamen Gegner sind die radikalen Islamisten, welche sich im Süden des Landes festgesetzt und praktisch ganz Fessan unter ihre Kontrolle gebracht haben.
ITAR-TASS kommentiert am 17.12.2012 diese Vorgänge denn auch wie folgt:
Das russische Außenministerium teilte mit, dass es wieder Kontakte zur libyschen Führung gibt, deren Ziel es ist, eine Ausbildung von Angehörigen der libyschen Streitkräfte zu organisieren.
Diese Meldung liest sich angesichts der Tatsache, dass Russland im libyschen Konflikt eine “neutrale” Position eingenommen hat, ein wenig seltsam; auch, weil sich die Sympathien eines bedeutenden Teils der [russischen? - apxwn] Bevölkerung ganz offenkundig nicht auf Seiten der jetzigen Sieger befanden.
Nichtsdestotrotz gibt es hinter diesen Vorgängen eine gewisse Logik, mehr noch, eine solche Position entspricht den russischen Staatsinteressen. Wir wollen einmal versuchen, uns in der Sache zurechtzufinden.
Im Unterschied zum jetzt in Syrien stattfindenden Krieg war jener in Libyen durch eine Vielzahl innerer Widersprüche begünstigt, in erster Linie war das die Unzufriedenheit der Stämme, welche eine der historischen Regionen des Landes besiedeln – die Kyrenaika. Die Unzufriedenheit rührte aus einer ungleichen Verteilung der Erträge aus dem Erdölgeschäft, die fast vollständig in ebendieser Region des Landes konzentriert sind.
Ohne in die Details dieser Widersprüche vorzudringen, können wir konstatieren, dass das Nachkriegs-Libyen bislang nicht in der Lage war, sie zu beheben. Mehr noch, die Stämme auf der Siegerseite unternahmen eine Neukonfiguration der Vorkriegs-Stammeshierarchie und gerieten darob nicht nur mit den auf der Hierarchieleiter “nach unten” durchgereichten Gaddafa, Warfalla, Megraha und den Tuareg aneinander. Zu ihren erbitterten Gegnern wurden auch die radikalen Islamisten, die in Kriegszeiten noch “Weggenossen” der Rebellen gewesen sind. Während die Sieger sich mit den vormaligen Gegnern unter den Libyern noch irgendwie einigen können – zumal Stammesfehden in dieser Region keine Seltenheit sind, es gibt eine ganze Kultur um Stammeskriege und entsprechende Friedensabschlüsse – so ist mit den Islamisten kein Waffenstillstand möglich.
Das Ende des Konflikts in Libyen führte dazu, dass radikale Gruppierungen, wie die Libyan Islamic Fighting Group (LIFG), die Al-Kaida im Maghreb (AQIM) sowie andere, kleinere Gruppierungen auch ausländischen Ursprungs praktisch die gesamte südlibysche Provinz Fessan unter ihre Kontrolle gebracht haben. Die größte Stadt-Oase der Provinz, Sebha, wurde von solchen Brigaden bereits im September 2011 besetzt. Die Islamisten haben die ansässigen Tubu-Stämme erbarmungslos in die Wüste verdrängt, in der Region befindliche Militärstützpunkte, Camps und Waffenlager erobert und mithilfe ausländischer Berater und Instrukteure ein ganzes Netz an Ausbildungslagern und entsprechender Infrastruktur errichtet.
Faktisch stellt der Süden Libyens heute eine durch niemanden kontrollierte Terroristen-Enklave dar, von deren Territorium aus Angriffe und Operationen in alle Richtungen erfolgen. Andere terroristische Organisationen der Region – die nigerianische Boko Haram, die Ansar ad-Din aus Mali, die somalische al-Shabaab – nutzen das Territorium dieser Enklave als alliiertes Gebiet.
In diesem Zusammenhang sind die neuen libyschen Machthaber beim Kampf zwischen den Stämmen und bei ihren Versuchen, den Einfluss des Katar, Frankreichs und der USA loszuwerden, gezwungen, auch diese vom Süden des Landes ausgehende ernsthafte Bedrohung zu berücksichtigen. Stammesmilizen liefern sich immer wieder erbitterte Kämpfe mit den Islamistenbrigaden, welche Versuche unternehmen, auch Territorien nördlich von Fessan zu besetzen; zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat sich ein gewisses Gleichgewicht herangebildet.
Die neuen libyschen Machthaber sind deswegen objektiv daran interessiert, eine Armee zu schaffen, die diesen Bedrohungen widerstehen kann. Die heutige Armee stellt nichts weiter als einen bunten Haufen aus Stammesmilizen und Brigaden dar, die nur sehr bedingt einem einheitlichen Kommando unterstehen, welches seinerseits immer wieder gezwungen ist, sich mit den Scheichs der jeweiligen Stämme abzustimmen. Die Armee aus den Zeiten der Dschamahirja, welche im Grunde aus genau solchen Territorialmilizen plus einer geringen Zahl an semiprofessionellen Einheiten bestand, ist im Verlauf des Kriegs zum Teil ausgelöscht worden.
Die Professionalität der jetzigen libyschen Armee ist auf einem sehr niedrigen Niveau, eine Stabskultur sowie theoretische Ausbildung sind kaum vorhanden, die im Verlauf des Kriegs geplünderten Vorratslager der Armee haben die neue Armee faktisch aller Waffen- und Munitionsvorräte beraubt.
Alles zusammen ergibt die dringende Notwendigkeit, sich mit einem militärischen Aufbau zu befassen; schon allein deshalb sieht die an Russland gerichtete Anfrage logisch aus, denn die wesentlichen Elemente der libyschen Waffen sind noch aus Sowjetproduktion und folgen diesen Standards, viele Kommandeure haben ihre Ausbildung in der UdSSR und in Russland bekommen, aber das Wichtigste – einzig die russischen Streitkräfte verfügen über die für die Libyer jetzt so wichtige Erfahrung einer Kriegführung gegen Partisanen bzw. gegen bewaffnete Kämpfereinheiten und Terroristen. Die Erfahrungen aus den Hightech-Kriegen der US-Streitkräfte gegen den Irak und Afghanistan sind in Libyen kaum anzuwenden, und so sieht die Wahl Russlands als Partner durchaus vernünftig aus. Auch das Interesse Russlands ist verständlich – Russland ist sehr daran interessiert, eine Terroristen-Enklave, deren Ausmaß nicht nur für die Region, sondern auch überregional eine Bedrohung darstellt, möglichst auszuschalten.
Aber das ist noch nicht alles. Militär gut und schön, aber Russland hatte in Libyen auch noch andere Eisen im Feuer. Alexandr Saltanow, Vizepräsident der Russischen Staatseisenbahnen RŽD, teilt indes mit, dass Libyen “Signale sende”, es sei an einer Fortführung der Kooperation mit Russland auf dem Gebiet des Eisenbahnbaus interessiert, die infolge des NATO-Überfalls im vergangenen Jahr zum Halten gekommen ist. Es geht dabei um den 2008 begonnenen Bau einer Eisenbahnverbindung zwischen Sirte und Bengasi mit einer Gesamtlänge von 550 Kilometern. Das Vertragsvolumen betrug 2.2 Milliarden Euro. Die Kosten sollten vollständig von der libyschen Seite getragen werden, und das im Austausch gegen eine Abschreibung libyscher Schulden gegenüber der RF. Ende Februar 2011 wurde das Projekt eingestellt und alle RŽD-Mitarbeiter aus Libyen evakuiert.
Wir bekommen Signale, dass unser gemeinsames Projekt in kraft bleibt. Wir sind bereit, die Arbeiten fortzuführen … Inzwischen gibt es, wie wir annehmen, eine neue libysche Führung, es bilden sich andere Machtstrukturen, so dass die Zeit für Verhandlungen gekommen ist, die das Schicksal dieses Projekts bestimmen sollen.
Die RŽD hat eine Menge an Technik und Baustoffen in Libyen zurückgelassen, so dass die Rückkehr dahin zumindest eine Chance birgt, einen Teil der bereits investierten Mittel zurückzubekommen.
Nimmt man beides – nämlich die Absichten über eine militärische Zusammenarbeit und die Fortsetzung der Infrastrukturprojekte – zusammen, zeigt sich ein einziger Bereich, in dem Russland keine Perspektiven einer “Rückkehr” nach Libyen hat: die Erdöl- und Erdgasförderung. Das hängt offensichtlich mit dem starken Einfluss des Katar auf die libysche Politik zusammen. Wohingegen die neuerliche Strafverfolgung der obersten NTC-Kreatur Mustafa Abd al-Dschalil, der ja als Durchsetzer katarischer Interessen in Libyen gilt, durchaus davon zeugen kann, dass die neuen Machthaber keine allzu direkte Einflußnahme der al-Thanis mehr wünschen.